Ein Märchen in drei Textblöcken auf einen Vorhang geschrieben, das könnte als Pleonasmus interpretiert werden. Denn Vorhang und Märchen haben eine gemeinsame morphologische Struktur. Vorhang wie Märchen verbergen und verdecken etwas. Petra Sterry beschäftigt sich mit der “Morphologie des Märchens” (Vladimir Propp)1. Sie erkannte, dass Märchen Erzählungen sind, die aus gleichen oder ähnlichen Elementen immer wieder aufs Neue geknüpft werden. Märchen sind etwas Lebendiges, sie erzählen vom Leben, sind eine postmoderne Literatur avant la lettre, denn sie leben von einer Aura des Ambivalenten. Sie zeigen nur, was sie sagen, doch in der Erzählung selbst ist mehr verborgen als sie sagt, sie bewahrt ihr Geheimnis. Märchen sind der Spiegel der Gesellschaft, ein dunkler Spiegel, an manchen Stellen blind, daher rührt die Faszination der Märchen, aber auch die Angst davor. Im Märchen lernt das Kind versteckte soziale Mechanismen kennen. Das Kind liest von sozialen Hierarchien, sozialen Klassen, von Armen und Reichen, von Schönen und Häßlichen, von Guten und Bösen, von Namen und Namenlosen, von Verboten und Gesetzen. Im Übersinnlichen, im Surrealen und im Irrealen kommt der eigentliche Sinn des Märchens zum Vorschein, nämlich darauf zu verweisen, was sich hinter dem Vorhang verbirgt. Petra Sterry erzählt scheinbar ein neues Märchen, doch die Elemente sind bekannt. Der See, der Wald, der Spiegel, der König, die Prinzessin, der Zwerg mit dem Namen “Rumpelstilzchen”. Sie schlägt in der unendlichen Geschichte des Märchens ein neues Kapitel auf. Ähnlich wie Paul McCarthy und Mike Kelley in ihrer Interpretation von “Heidi” zeigt auch Sterrys Interpretation die dunkle Seite der Märchen. Unheil nicht Heil wartet am Ende ihrer Geschichte von Prinzessin Dunkelschön, die sich im Wald erhängt, sodaß der jedes Märchen hoffnungsvoll abschließende Satz “Und wenn sie nicht gestorben sind…” abrupt und brutal eliminiert wird.
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Indem Sterry sich mit Märchen beschäftigt, sie dekonstruiert, beschäftigt sie sich eigentlich mit sozialen Mechanismen, deren Regelwerk das Märchen als erzählerische Motive verkleidet, es geht um Erotik und Tod, Macht und Moral, Ansehen und Ehre, Besitz und sozialen Rang. Es handelt sich in den Mythen und Märchen um jene Felder, welche die Psychoanalyse aus dem Dunkel der Seele hervorgeholt hat, von Inzest bis Ödipus. Die bildliche Darstellung hat sich der Antike mit den Mythen und Märchen allegorisch beschäftigt. Petra Sterry zerlegt hingegen das Märchen in seine logische Struktur, sie zeigt das Märchen als Kommunikationstext, wo das Sprachspiel das Klassenspiel offenbart (als soziologisches “Puzzle”). Indem sie ihr Märchen auf einen Vorhang druckt, handelt es sich um ein Schriftbild. Sterry hat eine Reihe von Schriftbildern hergestellt, die sich durch eine entstellte Sprache auszeichnen, eine Sprache, in der ein Träumender im Schlaf murmeln könnte. Die Sprache des Traumes ist der Sprache des Märchens verwandt. In ihren Schriftbildern hat Sterry durch eine “fehlerhafte” Orthographie die Mehrdeutigkeit der Sprache des Märchens verstärkt. Sie macht aber auch sichtbar, dass innerhalb der Regeln der Sprache, die für sie die Regeln des Lebens widerspiegeln, nicht nur Zwang herrscht, der Zwang der Grammatik, der Zwang zur Kommunikation, sondern dass auch Freiheiten möglich sind, Bedeutungsfreiheiten. Die Mehrdeutigkeit des Märchens und der Bedeutungspluralismus von Sterrys Schriftbildern zeigen, dass es ihr um ein Grundelement des sozialen Lebens geht, um die Freiheit des Individuums. Diese Freiheit drückt sie in ihren individualisierten Schriftbildern aus, sie leistet im Umschreiben der Orthographie und im Umschreiben der Märchen einen sozialen Widerstand. Sie bewahrt sich die Vorbehaltlosigkeit des Kindes im Erleben der Gesellschaft, das von der Frage und dem Staunen ausgeht. Aus dem Sprachspiel wird so ein Gesellschaftsspiel. Solche sprachkonzeptuellen Strategien wurden nach 1945 von der Wiener Gruppe formuliert und später von Peter Handke2 popularisiert. Sterry vereinigt in sich die Sprachspiele der Wiener Gruppe, aber auch die Welt des Wiener Aktionismus, wenn man ihre Zeichnungen mit den Skizzen von Rudolf Schwarzkogler vergleicht.
Kunst, die sich auf das Märchen beruft, zieht sich selbst zurück. Die Zeichnung “Prinzessin Dunkelschön” von 1999 zeigt einen Phallus, der als Schlange wie ein Rückgrat in das Haupt der Prinzessin vorstößt. Die Doppelzüngigkeit der Schlange ähnelt dem Dreizack der Krone. Im Text des Märchens hält sie sich an die Regeln des Märchens, die Sexualität zu tabuisieren: Rumpelstilzchen streichelt das Gesicht der Prinzessin, in der Zeichnung aber löscht sie die Regeln des Märchens, sie zeigt Sex und Tod in aller Grausamkeit. In vielen anderen ähnlichen Zeichnungen von 1999 zeichnet Sterry den dunklen Urgrund der Existenz, den Tod. Die Zeichnungen kommen aus einer Verteidigungszone, aus einer Flucht, aus einer Abwehr, die etwas zu bannen versucht, dessen Name zwar klar ist, aber nicht ausgesprochen werden darf. Sterrys Kunst bleibt also selbst in der grammatikalischen und narrativen Struktur des Märchens verhaftet. Ihre Kunst ist selbst Märchenkunst, nur grausamer. Die ästhetischen Erfahrungen, wie sie von Artauds Theater der Grausamkeit, über die Art brut bis zur zustandsgebundenen Kunst seit Jahrzehnten eine Landkarte des menschlichen Leidens ausbreiten, die kein Zuhause verzeichnet, sondern einen ständigen Zustand der Instabilität und Entwurzelung, einen Schwebezustand, diesen ästhetischen Erfahrungen bilden auch den Horizont der ästhetischen Obsessionen von Petra Sterry.