Gegen die Bequemlichkeit
Petra Sterry im Gespräch mit Frazer Ward, Professor, Department of Art, Smith College
Petra Sterry (PS): In Ihrem Buch „No Innocent Bystanders“1 untersuchen Sie die Rolle der Performancekunst und insbesondere die Rolle des Publikums genauer. In Ihrer Untersuchung analysieren Sie die verschiedenen Rollen des Publikums, indem Sie sich die Arbeit einiger ausgewählter Performancekünstler genauer ansehen, und es stellt sich heraus, dass es nicht „die“ Rolle für das Publikum gibt. Welche Erwartungen sollten wir also an ein Publikum haben?
Frazer Ward (FW): Ich denke, Kunstwerke prägen die Erwartungen, wie das Publikum reagieren könnte. Am deutlichsten ist das vielleicht bei der Performance-Kunst, wo es ganz bestimmte Anforderungen gibt – sich auf bestimmte Weise zu beteiligen, entweder physisch (Sie müssen hier sitzen) oder affektiv (wenn das Werk zum Beispiel schockieren will) –, aber ich denke, das gilt auch für statische Werke. Kunstwerke können auch einen Standard-Reaktionsmodus voraussetzen (geframt durch institutionelle Konventionen), den sie dann zu durchbrechen versuchen. Allerdings gibt es keine Garantie dafür, dass das Publikum tun wird, was man von ihm verlangt. Ein Beispiel, auf das ich mich in meinem Buch beziehe, war Abramovics Wiederaufführung ihres eigenen Werks Thomas‘ Lips im Guggenheim im Jahr 2005. Als Abramovic mit einer Rasierklinge die Form eines Sterns in ihren Bauch schnitt, rief eine junge Frau, die hörbar erschrocken war: „Sie müssen das nicht tun“. Während die ursprüngliche Performance von 1975 (die einen politischen Kontext in Bezug auf das damalige Jugoslawien hatte) möglicherweise eine ethische Testzone geschaffen hatte, die die Erwartungen der Zuschauer und Zuschauerinnen an das, was im Namen der Kunst akzeptabel war, herausforderte, war 2005 sogar dieser Effekt zum Spektakel geworden. Die Intervention der jungen Frau kann also als Protest gegen die Art und Weise verstanden werden, in der die Wiederaufführung das Original entleert und ein Publikum voraussetzt, das das Spektakel aus der Ferne betrachtet.
Mehr lesen / Read more ...PS: Auch wenn man nicht im Voraus sagen kann, wie das Publikum auf eine Performance reagieren wird, ist es von Anfang an in gewisser Weise geframt. Das ist das Besondere an diesem Medium: Das Publikum wird oft in etwas hineingezogen. Wie Sie sagten, es geht um Erwartungen, die gebrochen werden sollen. Das Hier und Jetzt ist ein Punkt, der auch für das Publikum gilt. In Bezug auf seine Arbeit sprach Chris Burden vom „primären“ Publikum und von denen, die nicht da waren, aber später darüber als „sekundäres“ Publikum lesen würden. Daher sind auch die Reaktionen des anwesenden Publikums relevant. Sie haben die Reaktion einer jungen Frau in Abramovics Re-Performance im Guggenheim erwähnt. Es wäre interessant herauszufinden, mit welcher Absicht die junge Frau sagte: „Du kannst aufhören. Du musst das nicht tun.“ War sie besorgt über mögliche Verletzungen von Marina Abramovic? Hat sie die Aufführung als bloßes künstlerisches Spektakel wahrgenommen, das sie abgelehnt und deshalb früher verlassen hat? Fühlte sie sich unwohl, weil sie befürchtete, dass niemand sonst vom Publikum reagieren würde? Es wäre interessant, die Absicht in Bezug auf die Frage ihrer Erwartungen an die Situation zu klären. Dies wäre wiederum interessant in Bezug auf die Rolle, in der sie sich selbst sah. Und zum Schluss die Frage aus der Sicht Dritter: Es geht um einen Kunstkontext, es geht auch um Framing: Wie haben die junge Frau und alle anderen im Publikum ihre Rolle ausgefüllt, z. B. aus ethischer, sozialer oder philosophischer Sicht? Es bringt mich dazu, darüber nachzudenken, was ein Publikum ausmacht. Sind es mehrere verschiedene Personen, die sich aufgrund ihres Interesses an derselben Veranstaltung zur selben Zeit am selben Ort befinden? Oder ist es eine Gemeinschaft? Ich denke, wenn man den Begriff community genauer analysiert, kann man sehen, dass dieser Begriff in der Kunst oft undifferenziert bleibt, im Gegensatz zu seiner Verwendung für politische oder soziale Fragen. Ich werde später darauf zurückkommen, warum ich community nicht bedingungslos verwenden würde.
FW: Für mich ist, nach Burden, das primäre Publikum jene Menschen, die dort sind: Sie können, nach Haacke und Bourdieu, soziologisch geframt werden, und sie werden institutionell geframt – konditioniert, überwacht, und es wird erwartet, dass sie sich auf bestimmte Weise verhalten. Die Performance-Kunst hat, zumindest historisch gesehen, das Publikum und die Erwartungen, wie es sich zu verhalten hat, unter Druck gesetzt. Ein Ziel dabei war es, institutionelles Framing offenzulegen und das Publikum sozusagen zum Fehlverhalten aufzufordern. Aber darüber hinaus glaube ich, dass Performance Druck auf die Vorstellungen darüber ausgeübt hat, was das Publikum sein könnte: Ich möchte nicht geringschätzen, was Performance uns über Zeugenschaft und gemeinsame Zeugenschaft lehren kann, aber ich denke, sie lehrt uns auch, mit Ideen wie Gemeinschaft vorsichtig umzugehen. Gemeinschaft wird oft andächtig beschworen, als ob ein Kunstwerk, das eine Gemeinschaft um sich herum erzeugt, per se gut sein müsste. Aber ich nehme Iris Marion Youngs Einschätzung sehr ernst, dass die Beschwörung der Gemeinschaft typischerweise eine Nostalgie nach einer idealisierten, kleinen, auf persönlichen Interaktionen beruhenden sozialen Gruppierung darstellt, die in Wirklichkeit per se exklusiv war – sie definierte sich gegenüber dem, was sie ausschloss. Und ich denke, dass die Generation der Performance-Künstler und Performance-Künstlerinnen der 1970er Jahre dies ebenfalls argwöhnisch betrachtete. Natürlich gibt es absolut notwendige taktische Anwendungsmöglichkeiten von Gemeinschaft für politische Zwecke, insbesondere unter rassisch oder anderweitig markierten Gruppen, die wegen ihrer Andersartigkeit unterdrückt werden (ironischerweise als Bedrohung für die „breitere Gemeinschaft“ postuliert), aber in anderen Kontexten scheint es mir oft ein exklusives Gebilde zu sein, das sich als ein inklusives ausgibt. Daher stimme ich zu, dass der Begriff community bzw. Gemeinschaft nicht bedingungslos verwendet werden sollte.
PS: Ja genau. Der Begriff community kann auch mit Gruppenbildung verbunden sein und zu einer Überhöhung der Gruppe führen, nämlich dann, wenn es nicht mehr um den Einzelnen, um das Individuum geht. Sie zitieren Iris Marion Young, die einen kritischen Standpunkt einnimmt, und derzufolge das Ideal der Gemeinschaft auch eine Transparenz der Subjekte zu sich und zu anderen erfordert. Insofern finde ich einige der Performances aus den 70ern tatsächlich sehr erhellend, weil sie die Frage nach dem Verhalten des Einzelnen in einer Gruppe bzw. in der Gesellschaft stellen. Es ist die Überhöhung der Gruppe, die mich an der Idee von Gemeinsamkeit oft stört. Mich interessiert die Rolle des Publikums auch aus einer persönlichen Erfahrung heraus: Ende der 80er Jahre, als ich eine junge Kunststudentin war, nahm ich an einer Performance teil, die in der Secession2 in Wien und etwas später wieder im Rahmen eines Kunstsymposiums in einer anderen Institution3 aufgeführt wurde. Während sie in der Secession wie vereinbart in der Dunkelheit stattfand, wurde die zweite Aufführung ganz anders durchgeführt: Ich saß nackt auf einer dunklen Bühne. Aber dann gingen die Lichter immer mehr an, langsam aber stetig, jedoch ohne mich über die Änderung zu informieren oder mich vorher um Zustimmung zu fragen. Am Anfang habe ich einen technischen Fehler in Betracht gezogen. Völlig nackt und in anhaltender Todesangst signalisierte ich dem Lichttechniker mit meinen Blicken, das Licht auszuschalten. Aber bald wurde mir klar, dass er dies absichtlich tat. Bald war die Bühne voll beleuchtet, aber ich war gelähmt und konnte meine untere Körperhälfte nicht mehr bewegen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mein Handlungsvermögen wiedererlangte, aber irgendwie gelangte ich noch vor Ende des Stücks von der Bühne. Viele Jahre lang hatte ich keine Worte, um die Todesangst, die Scham, die Hilflosigkeit zu beschreiben. Viele Jahre später erst wusste ich, dass ich in Folge der Todesangst eine Dissoziation erlitten hatte. Und damit komme ich auch zu meiner Beobachtung: Mit der ersten Aufführung in der Secession wurde diese Veranstaltung als Kunst geframt. In der zweiten Aufführung war sie sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch. Aber niemand aus dem Publikum stoppte den öffentlich vorgeführten Missbrauch. Also: ist die Kunst-Community eine Bequemlichkeits-Community? Eine nach Sensationen heischende Community? Oder eine, die Angst vor individuellen und unbequemen Entscheidungen hat? Ich hatte bemerkt, dass zwar einige im Publikum betroffen zu sein schienen, und in ihren Blicken konnte ich so etwas wie Mitgefühl lesen, andere wiederum schienen gelangweilt, und einige pfiffen und johlten. Aber niemand reagierte. Einzig eine Person aus dem Publikum kam unmittelbar danach zu mir in den Garderobenraum und sagte sichtlich betroffen: „Es tut mir so Leid, was geschehen ist.“ Ich denke mir, dass es noch andere mitfühlende Zuschauer gab, die aber einfach nicht den Mut hatten, diese Vorführung zu beenden. Andere Zuschauer haben vielleicht gar nie begriffen, dass sie – vielleicht sogar unfreiwillig – zu Komplizen gemacht worden waren. Strukturen sollte man aber immer hinterfragen, denke ich. Speziell in diesem Beispiel möchte ich die Rechtfertigung, dass man das „im Kontext sehen“ müsse, als Kontext-Euphemismus bezeichnen. Und das bezieht sich übrigens nicht nur auf die Kunst, das gilt für alle Bereiche des Lebens, wo etwas durch die Umstände, die Besonderheit der Situation, des Ortes, des Täters oder der Täterin zu Unrecht gerechtfertigt wird.
FW: Das klingt nach einer wirklich furchtbaren Erfahrung. Ich habe argumentiert, dass Performance-Künstler und Performance-Künstlerinnen ziemlich oft ethische Testzonen einrichten, typischerweise, aber nicht nur, indem sie ihren eigenen Körper Risiken aussetzen, oder in Situationen, die ein Eingreifen des Publikums zu erfordern scheinen. Oder dies tun würden, wenn sie nicht als Kunst geframt würden (dies ist, wenn Sie so wollen, der institutionskritische Aspekt von Performance). Dies wird klar, wenn man auf Yoko Onos Cut Piece zurückgreift, oder auf Arbeiten von Marina Abramovic, Abramovic/Ulay, Vito Acconci, Chris Burden, Adrian Piper, Pope.L., Tehching Hsieh. Abramovic, Acconci und Burden versetzen gelegentlich auch andere Personen in solche Situationen, Burden vor allem in TV Hijack. In diesen Fällen, in denen ein höheres Maß an Manipulation anderer Menschen vorliegt, ist auch ein stärkerer Rückgriff auf das Spektakel zu beobachten. Dies bezieht sich nicht nur auf Ihre Frage, was für eine Art von Gemeinschaft die Kunst-Community sein könnte, sondern eröffnet auch eine Diskussion darüber, ob es möglich ist, zu behaupten, dass die Werke in irgendeiner Form eine kritische Reflexion über Bedingungen „außerhalb“ der Kunst anstellen, oder ob sie diese bloß fortsetzen (einfach ausgedrückt, hat ein bestimmtes Kunstwerk etwas über gesellschaftlich sanktionierte Gewalt zu sagen, oder nimmt es als Spektakel nur an dieser Gewalt teil). Dieselbe Art von Diskussion kann auch in Bezug auf neuere Werke von Vanessa Beecroft oder Santiago Sierra und anderen geführt werden. Die von Ihnen geschilderte Erfahrung, bei der Sie ohne Ihre Zustimmung gewaltsam manipuliert wurden, scheint zu verdeutlichen, dass die Künstler Überlegungen in Bezug auf ihre Verantwortung gegenüber Mitwirkenden und vor allem in Bezug auf den Schaden, der diesen entstehen könnte, anstellen müssen. Das heißt, dass die Performance sowohl für die Künstler als auch für das Publikum ethische Anforderungen stellt bzw. stellen sollte. In dem von Ihnen geschilderten Fall haben die Künstler diese Anforderungen offensichtlich nicht erfüllt, sodass das Werk zu einem Spektakel und Missbrauch verkam – auch wenn nicht klar ist, ob das Publikum es als solches verstehen konnte. Das scheint das Publikum wieder in die Position des relativ passiven Konsumenten zu versetzen, die die Performance vielleicht sogar unterbinden wollte, obwohl die Bemühungen in dieser Hinsicht ambivalent waren. In diesem Zusammenhang scheint Gemeinschaft eine negative Konstruktion zu sein, ein Gegengewicht zum Engagement. Obwohl die „Kunstwelt“ ein identifizierbares Netzwerk sozialer Organisation ist, bin ich mir nicht sicher, ob wir die Kunst-Community von breiteren sozialen Gruppierungen, von denen sie eine Untergruppe ist, trennen können oder sollten.
PS: Sie haben den von mir beschriebenen Fall treffend analysiert: Wenn ein Werk in Spektakel und Missbrauch zerfällt, ist es für das Publikum schwierig zu erkennen, welche Botschaft übermittelt wird, und es bleibt passiver Konsument. Wenn das Spektakel Missbrauch beinhaltet oder sogar überlagert, ist kritisches Denken erforderlich. Für den Alltag fordern wir Zivilcourage, in der Kunst beschränken wir uns auf kritische Reflexion. Ich denke, das Spektakel ist ein relativ simples Instrument, um Aufmerksamkeit zu erregen. Darüber hinaus kann es mögliche inhaltliche Schwachstellen einer Arbeit leichter kaschieren. Manipulation ist ein effektives Stilmittel, das intelligent eingesetzt werden sollte. Die Institutionen befinden sich in einem Dilemma: Sollen sie sich überhaupt in die künstlerische Freiheit einmischen? Wo ist die Grenze? Es besteht die Gefahr, dass dies zu Lasten der Freiheit der Kunst geht, oder dass Institutionen Künstler bevormunden und der Vorwurf der Zensur im Raum steht. Ich denke, Kunst sollte schon etwas über sozial sanktionierte Gewalt zu sagen haben. Wenn sie nur an dieser Gewalt partizipieren würde, als Spektakel, dann würde mir ein sehr entscheidender Aspekt fehlen: nämlich der inhaltliche Anspruch – Fragen des Gesellschaftlichen, des Philosophischen usw., die ein Künstler/eine Künstlerin durch das Werk stellt. Kunst muss keine Antworten liefern. Ich denke, sie muss Fragen stellen. Wenn dies nicht gelingt, ist die Arbeit nicht überzeugend. Die Frage der Umsetzung ist entscheidend. Eine Arbeit kann einfach und doch unglaublich klar sein. Etwas Bombastisches, das mit viel Aufwand umgesetzt wird, kommt möglicherweise immer noch nicht auf den Punkt und bleibt unbestimmt. Trotzdem frage ich mich, warum Institutionskritik nicht beliebt ist. Wenn sich die Institutionen der Kunst verschrieben haben, können sie nur gewinnen, wenn sie den Austausch und den Diskurs fördern, oder? Wie beurteilen Sie die Zurückhaltung der Institutionen?
FW: Sie schreiben: „Im Alltag fordern wir aktive Zivilcourage, in der Kunst beschränken wir uns auf kritische Reflexion.“ Das scheint passend für den gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem von den Museen mehr als nur kritische Reflexion verlangt wird: Der Druck, der auf die Vorstände der Museen ausgeübt wird, wenn es um Vorstandsmitglieder geht, deren Reichtum aus unethischen und besonders aus gegenüber Menschen anderer Hautfarbe diskriminierenden Quellen stammt, könnte als Aufforderung an die Institutionen verstanden werden, aktive Zivilcourage zu zeigen. Ebenso könnte Druck auf Museen ausgeübt werden, ihre Ausstellungs- und Sammlungsstrategien sowie ihre Einstellungsverfahren zu überdenken. Diese Bewegungen sind aktivistische Beispiele für die in den 1970er Jahren entstandene Institutionskritik. Die kurze Antwort auf die Frage, wie wir die Zurückhaltung der Institutionen, zumindest in den USA, wo sie nicht in erster Linie staatlich finanziert werden, bewerten, ist also finanzieller Natur, obwohl sie auch mit der Exklusivität ihrer Vorstände und mit der mangelnden Verbindung zwischen den verschiedenen Ebenen der Museumsmitarbeiter und Museumsmitarbeiterinnen und ihren Vorständen zusammenhängt. Dies verdeutlicht die Kontinuitäten zwischen den Institutionen und den systemisch rassistischen Gesellschaften, in denen sie sich entwickelt haben und weiterhin tätig sind. Wir (wer auch immer „wir“ sind) stellen nicht ganz so direkte Forderungen an Künstler und Künstlerinnen, was darauf hindeutet, dass die kritische Reflexion ihren Wert behält, obwohl die Kontroverse um Dana Schutz‘ Gemälde auf der Whitney-Biennale 2017 beispielsweise darauf hindeutet, dass es ein Bedürfnis gibt, Kunstwerke anzuprangern, die so verstanden werden, dass sie sich Bildwelten für spektakuläre Zwecke aneignen – ,noch etwas, das Kunst in Beziehung zu systemischem Rassismus und Ungerechtigkeit setzt. Ich würde also sagen, dass es neu zugespitzte Versionen der Institutionskritik gibt, die populär sind, die sich mit sozialen Bewegungen jenseits der Kunstwelt verbinden und denen sich Institutionen widersetzen, weil sie ihrerseits einer Version der Kunst verpflichtet sind, die die Interessen ihrer Investoren vertritt, und auch weil sie den Anschluss verloren haben und von den neuen Forderungen verwirrt sind. Natürlich gibt es einzelne Akteure in den Museen usw., die die ganze Zeit daran gearbeitet haben, die Dinge von innen heraus zu verändern, so dass man neben dem offensichtlichen Narrativ auch über Netzwerke in Netzwerken nachdenken muss.
PS: Ich glaube auch, dass Veränderungen eher von sozialen Bewegungen ausgehen. Die Kunstwelt ist vergleichsweise rigide, und ein Einzelner muss in jedem Fall viel mehr Überzeugungsarbeit leisten um Gehör zu finden. Auch wenn das Kunstgeschehen in Österreich nicht ganz so stark von Mäzenen abhängig ist und es eine staatliche Kulturförderung gibt, so gibt es doch auch Parameter innerhalb der Institutionen, die zu einer gewissen Trägheit innerhalb des Systems beitragen. Von der internationalen Kunstwelt liegt Wien etwas abseits, obwohl es hier eine lebendige Kunstszene und Künstlerinnen und Künstler gibt, die zu Unrecht international nicht auf dem Radar sind. Neues trifft meist erst auf Akzeptanz, wenn es sich anderswo schon durchgesetzt hat. Und man darf nicht vergessen, dass Österreich auch ein kleines Land ist. Es ist daher wichtig sich auch international sichtbar zu machen. Ich würde mir wünschen, dass es in den Institutionen mehr Mut zum Unbequemen gäbe, aber es fehlt auch die Bereitschaft zur Selbstkritik. Ich kehre wieder zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in einem prekären Bereich wie dem Kunstbereich zurück. Für mich war es eine befremdliche Erfahrung, welch kreative Argumente Verantwortliche zustande bringen, wenn es um die Frage geht, ob sich ihre Institution mit einem unangenehmen Thema wie sexualisierter Gewalt im Kunstbetrieb bzw. mit einer Arbeit, die dieses Thema aufs Tapet bringt, auseinandersetzt. Ich habe mich in der Arbeit Elastic Punch sehr umfassend mit den inneren Zuständen und Emotionen, die mit so einer Ausnahmesituation einhergehen, auseinandergesetzt. In der Ignoranz, die mehr oder weniger eine Weigerung bedeutet, wird auch die Kalkuliertheit der Institutionen offensichtlich. Sie wollen ein Spektakel, Öffentlichkeitswirksamkeit, eine Person mit hohem Bekanntheitsgrad, gute Zuschauerzahlen. Und auch die Abwägung, ob man der eigenen Klientel und seinen Mitgliedern Ungemach bereiten könnte, spielt wohl eine Rolle. Wie sich sexualisierte oder sexuelle Gewalt anfühlen kann, dass man als betroffene Person trotzdem wieder Stärke entwickeln kann oder aber daran zerbricht, all diese Überlegungen beinhalten mehr als nur eine Ebene. Es gibt Künstler, die öffentlichkeitswirksam agieren, andere tun sich in der Heimat des Argumentierens leichter, und dann gibt es wieder andere, die mittels ihrer Arbeit besser sprechen können. Und manche Äußerungen zu diesem Thema erfordern in der Rezeption sicher auch eine größere Anstrengung in der Aufmerksamkeit als andere, oder sie bieten nicht den spektakulären Effekt, wie wenn jemand an den sozialen Pranger gestellt wird. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Der oder die Schuldige muss zur Rechenschaft gezogen werden. Aber manchmal scheint mir, dass die Öffentlichkeit das Thema abhandeln will, indem sie Namen aneinander reiht. Ist Anprangern und canceln die einzige Lösung in einer Demokratie? Ich sage, nein. Es stellt sich auch die Frage, ob es dem Begriff Zivilcourage ganz gerecht wird. Für mich nicht. Ich finde, das Thema ist komplexer und braucht neben einer Kultur der Debatte auch Raum für künstlerische Äußerungen. Nicht nur die Institutionen müssen diesbezüglich jenseits wirtschaftlicher Überlegungen agieren. Wir müssen der Gesellschaft wie auch dem Einzelnen mehr zumuten können, nämlich die Bereitschaft zu echter Aufmerksamkeit und zur Diskussion. Und das heißt auch, dass unsere Kritik bei der Bequemlichkeitsgesellschaft – und damit meine ich auch das institutionelle Framing – beginnen sollte. Denn, so möchte ich abschließend feststellen, Kunst ist weder ein Unterhaltungsformat noch ein frommes Gemeinschaftserlebnis.
FW: Ich denke, einer der Punkte, auf die Sie hier hinweisen, ist, dass die Kunst unterschiedliche Zielgruppen hat, die unterschiedliche Dinge von ihr wollen oder erwarten. Einige Leute wollen Unterhaltung, andere wollen ehrfürchtigen Respekt, und beide Gruppen können finden, was sie wollen, manchmal an denselben Orten. Und wie Sie sagen, besteht eine Reaktion neuerdings darin, anzuprangern oder zu canceln, was zu einem Selbstzweck werden kann. Es hat den Anschein, dass Kunstschaffende zunehmend innerhalb der starren Strukturen der Kunstwelt und ihrer vertrauten Institutionen agieren müssen, aber auch abseits von ihnen, was keine leichte Aufgabe ist. Es bleibt abzuwarten, ob die kumulativen Auswirkungen der sozialen Bewegungen und der globalen Pandemie letztlich zu offeneren Strukturen oder zu „business as usual“ führen.
Das Gespräch wurde im August 2020 per E-mail geführt.
1 Frazer Ward, No Innocent Bystanders: Performance Art and Audience, DARTMOUTH COLLEGE PR, 2012
2 „Damenmord“, Junge Szene Wien ’87, Secession, Wien (1987)
3 „Damenmord“, Das Wiener Sommersymposium, Wien (1987), Ort der Performance, Moulin Rouge, Wien