Das Leben ist ein Widerfahrnis
Petra Sterry im Gespräch mit Jens Burk, Referent für Skulptur und Malerei 1550 – 1800 am Bayerischen Nationalmuseum, München
Jens Burk (JB): Frau Sterry, Ihre Intervention „Die sich fügende Ordnung“, die von April bis Juni 2019 im Bayerischen Nationalmuseum stattfindet1, dreht sich um den Kopf von Franz Xaver Messerschmidt, ein Kunstwerk der älteren Kunst, aus dem 18. Jhdt. Wie war denn Ihr ursprünglicher Bezug zu dieser Thematik, und wie sind Sie auf Franz Xaver Messerschmidt gekommen.
Petra Sterry (PS): Ich habe mich schon länger mit inneren Zuständen und Emotionen befasst. Eigentlich bin ich schon sehr früh, noch während des Studiums auf Messerschmidt gestoßen. Ich muss dazu sagen, zu Beginn haben mich die Titel sehr gestört, zum Teil gingen sie für mich mit den Köpfen nicht zusammen, und dadurch habe ich Messerschmidt ein wenig ad acta gelegt. Im Zuge der nochmaligen Auseinandersetzung hat sich dann aufgeklärt, dass die Titel gar nicht von ihm stammen, und so habe ich eine neue Sichtweise auf die Köpfe bekommen.
Mehr lesen / Read more ...JB: Die Titel sind erst später, nach seinem Tod, mit seinen Köpfen in Verbindung gebracht worden, die man heute „Charakterköpfe“ nennt, aber man führt ja diesen Begriff in Anführungszeichen, weil ja selbst dieser Begriff nicht von Franz Xaver Messerschmidt stammt.
PS: Ja, ganz genau. Ich glaube auch, dass das sehr zur Verwirrung beigetragen hat, und es ist nicht nur das. Die Titel sind erst etwa 30 Jahre nach seinem Tod entstanden. Die Leute wurden eingeladen Titel für die Köpfe einzusenden. Ich finde aber, einen Titel eigenmächtig hinzuzufügen, ist problematisch. Es ist ein Eingriff in das Werk des Künstlers. Das ist, wie wenn jemand am Werk eines Anderen etwas ändert – etwas übermalt oder korrigiert.
JB: Wobei der Künstler selber diesen Köpfen wohl keine spezifischen Titel gegeben hat. Und diese Titel, die sie später dann bekommen haben, sind verliehen worden aus Gründen der Vermarktung und der Propagierung dieser Objekte, die auch immer schon auf dem Kunstmarkt eine Rolle gespielt haben. Was ist denn Ihr Ausgangspunkt? Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie sich mit dem Thema „Innere Zustände und Emotionen“ auseinandersetzen. Können Sie das etwas ausführen? Für Sie war also eine quasi befreiende Erkenntnis, dass die traditionellen Namen für diese Köpfe gar nicht ursprünglich waren. Sie konnten diese damit ad acta legen und sich auf die ästhetische Präsenz, auf die Wirkung dieser Objekte beziehen in Ihrer Arbeit.
PS: Stimmt. Ich finde, man hat einen unverstellteren Blick, wenn man diese Titel beiseite lässt, denn manche sind auch irreführend. Die Köpfe sind vielschichtig, schon allein durch die Tatsache, dass manchmal die Mimik beispielsweise im oberen Teil nicht zusammengeht mit der Mimik im unteren Teil des Gesichts. Diese Verbindungen sind von Messerschmidt beabsichtigt, und ich finde es wichtig, dass man sich darauf einlässt. Welches ist trotzdem das Merkmal, das hervorsticht? Ich betrachte den Kopf mit einer Art Unschärfe, und sie nimmt dann eine Richtung: was für einen inneren Zustand würde ich ihm geben, wie könnte ich diesen Zustand umschreiben, beschreiben?
JB: Wir haben uns im Verlauf des Projektes mehrmals über die verschiedenen vorliegenden Interpretationsansätze zu Messerschmidts Köpfen unterhalten. Die lange Rezeptionsgeschichte reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Schließlich liegt eine jüngste Interpretation vor, die nach Erkenntnissen eines Arztes, die Frau Pötzl-Malikova in ihrer neuen Monografie2 ausgebreitet hat, darauf deuten würde, dass tatsächlich eine spezifische Erkrankung vorgelegen hat. Die Köpfe mit ihren grimassierenden und stark verzogenen Augen- und Mundpartien, aufgerissenen Augen, fest geschlossenen Augen, mit unglaublich vielen Fältchen, also Zuständen von äußerster Anspannung werden von ihr auf eine Erkrankung zurückgeführt, der freilich Franz Xaver Messerschmidt in seinem Leben nicht in der Art begegnen konnte, wie es heute mit Hilfe der modernen Medizin möglich ist. Aber es scheint mir gerade ein außerordentliches Phänomen zu sein, dass dieser Künstler seine Zustände, die für ihn bedrohlich und schmerzhaft gewesen sein müssen, dass er diese Zustände bewältigen wollte, dass er mit ihnen umging. Wir wissen auf der anderen Seite, dass er selbst in seiner späten Zeit, in Pressburg, und das sind ja nur wenige Jahre gewesen, von 1777 bis zu seinem Tod 1783, der Zeit also, in der die meisten dieser Köpfe entstanden, die man heute „Charakterköpfe” nennt, dass er sich dort in wenigen Jahren eine neue Existenz aufgebaut hat, sich sozusagen wieder ein geregeltes Leben geschaffen hat, ein Haus erworben hat, vielfältige, offizielle Portraitaufträge für höchste Persönlichkeiten ausgeführt hat. Die Ansicht früherer Interpretationsversuche, dass da ein zurückgezogener, kranker Künstler sich nur noch mit diesen ganz eigenartigen Werken beschäftigt, dass das ja eigentlich nicht stimmt. Und ich wollte Sie gerne fragen, wie Sie mit Ihrer Arbeit auf diese Erkenntnis, auf diesen neuen Interpretationsansatz reagiert haben. Anders gefragt: Wie schätzen Sie es in Bezug auf Ihre Arbeit ein, dass diese Köpfe eigentlich gar keine Emotionen wiedergeben, wie Sie auch selbst andeuten, wenn Sie auf die teils widersprüchlichen oder gegenläufigen grimassierenden Verzerrungen im Augen- und im Mundbereich hinweisen.
PS: Zunächst einmal, Sie haben richtig angesprochen, dass Messerschmidts Köpfe vielfach mit seiner Krankheit, die um 1770/71 ausgebrochen zu sein scheint, in Zusammenhang gebracht wurden. Manche – ich zähle mich nicht dazu – sagen, sie wären nur damit zu verstehen und zu erklären. Besonders ist hier Ernst Kris zu nennen, der Kunsthistoriker und Psychiater, der in den 1930er Jahren eine Studie verfasst hat. Dass diese Studie immer wieder zitiert wird, schreibt Heike Höcherl im Katalog der Frankfurter Ausstellung 2006/2007 im Liebieghaus „Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt“ auch dem Umstand zu, dass Kris mit seiner Untersuchung die Erkenntnisse Sigmund Freuds und der Psychoanalyse in der Kunstgeschichte verankern wollte.3 Kris unterzog Messerschmidt einer posthumen Psychoanalyse und diagnostizierte eine akute Psychose Anfang der 1770er und sah in den Köpfen Gestaltungsmerkmale einer paranoiden Schizophrenie. Höcherl ist der Meinung, dass die Studie auch deshalb noch immer herangezogen wird, weil sie eine der ersten Beispiele ist, die die Erkenntnisse der Psychoanalyse für sich nutzt. Auch Maraike Bückling, Herausgeberin dieses Katalogs, kritisiert Kris‘ Analysemethode und zwar, weil sie auf der Grundlage von Kunstwerken und von Berichten Anderer entstanden ist und auch nicht die damaligen Vorstellungen von Verrücktheit mit einbezog.4 Es lagen ja 150 Jahre dazwischen. Eine neue These stellt Maria Pötzl-Malikova auf. Sie meint, dass die Köpfe mit Dystonien zu tun haben könnten. Dystonien sind neurologisch bedingte Bewegungsstörungen, die von unwillkürlichen Muskelkrämpfen begleitet werden. Wie Sie auch erwähnt haben, hatte Messerschmidt in Pressburg eine geregelte Existenz, und auch aus seinem Nachlassverzeichnis hat sich anhand der Auflistung seines Besitzes herausgestellt, dass er gar nicht so arm war, wie es in der Literatur oft dargestellt wird.
JB: Man kann sagen, dass dies eine erfolgreiche Wiedererlangung einer Position in Pressburg gewesen ist, die er bei Ausbruch seines Leidens um 1770/71 in Wien verloren hatte. Er musste doch wohl in Wien seine Karriere beenden, wofür auch einige Quellen und einige Beschreibungen sprechen. Die sich abzeichnende Erkrankung war wohl der Grund für den Karrierebruch und die Ablehnung, ihm die erhoffte Professorenstelle zu geben: Ohne Aufträge und praktisch abgeschrieben, verließ er daraufhin Wien und ging zuerst zurück in seine Heimatgemeinde Wiesensteig und dann über München nach Pressburg. Was ich Sie gerne fragen würde in diesem Zusammenhang. Sie beschäftigen sich nicht als erste zeitgenössische Künstlerin mit Franz Xaver Messerschmidt, sondern Sie sind sozusagen auch in einer Tradition verschiedener Künstler, die sich mit Messerschmidt befassen. Setzen Sie sich neben Messerschmidt auch gleichzeitig mit diesen zeitgenössischen Künstlern auseinander?
PS: Künstler wie Arnulf Rainer oder Tony Cragg haben sich explizit mit Messerschmidt auseinandergesetzt. Aber auch Bruce Naumans Serie „Studies for Holograms“ oder das Video „Clown Torture“ nimmt Bezug, ebenso Cindy Shermans Fotografien von Clowns. Jeder Künstler geht von seinem eigenen künstlerischen Hintergrund aus. Messerschmidt war experimentell, und das ist für viele Künstler ein Ausgangspunkt. Ich möchte darauf eingehen, was Sie vorhin zur Krankheit Messerschmidts gesagt haben. Es ist nicht nur die These von Kris, die für die Rezeption Messerschmidts eine wesentliche Rolle spielte. Der damalige Staatskanzler Kaunitz hat der Kaiserin Maria Theresia empfohlen, Messerschmidt nicht zum Professor zu ernennen. Möglicherweise hat er die Krankheit auch benutzt, um Messerschmidts Karriere abzuwürgen. Und auch die „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781“ von dem Berliner Publizisten Friedrich Nicolai ist ausschlaggebend für die Rezeption. Er hat Messerschmidt besucht und sich angehört, was dieser zu seinen Köpfen zu sagen hatte. Messerschmidts eigene Beschreibung ist interessant zu lesen. Ich kann diese Position nachvollziehen, die Position eines eigenwilligen Menschen, eines Exzentrikers. Es ist aber auch bekannt, dass Nicolai ein Aufklärer war. Und dessen Interesse war vermutlich nicht, Thesen und Berichte über Geist-Heimsuchungen zu propagieren. Es wäre gut möglich, dass Nicolai eine etwas voreingenommene Sicht auf Messerschmidt gehabt hat. Ich möchte noch gerne auf die verschiedenen Theorien kommen. Sie haben Maria Pötzl-Malikova angesprochen. Sie stellt in ihrer Monografie von 2015 die Theorie einer Dystonie Messerschmidts auf und bezieht sich dabei auf den Psychiater Michal Maršálek, der sagt, Messerschmidt hätte eine sekundäre Dystonie gehabt. Die Abbildungen von Patienten mit Dystonien und die Ähnlichkeit zu den in Vergleich gebrachten Köpfen ist tatsächlich frappant. Es gibt Vergleiche zu mehreren verschiedenen Dystonie-Arten. Die eine nennt sich Blepharospasmus, das ist eine Form, bei der ein beidseitiger Lidkrampf entsteht. Pötzl-Malikova meint, darauf könnten mehrere Köpfe passen. Auch zur Lidapraxie, bei der der Patient die Augen nicht auf Wunsch öffnen kann, und die zervikale Dystonie, die wiederum den Hals-Nackenbereich betrifft, bringt sie mit Köpfen in Vergleich.
JB: Um auf Ihre Arbeit nochmals ganz konkret einzugehen. Wir haben es bei der Bleiplastik im Bayerischen Nationalmuseum mit einem Kopf zu tun einer Person, die anscheinend nicht in der Lage ist sich mitzuteilen. Dieser Mund ist fest verschlossen. Er scheint zu einer verkrampften Linie eingezogen zu sein. Ihre Arbeit ist daher auch eine literarische Bearbeitung, weil Sie einen Text zur Verfügung stellen, der eine innere Zustandsbeschreibung zum Thema hat, also einen inneren Monolog bereitstellt, der dieser Verschlossenheit des Gesichtes entgegengesetzt wird. Was können Sie dazu sagen?
PS: Nun ja, ich versuche mir bei diesem Kopf ein Bild von Messerschmidt selbst zu machen. Ich möchte ihn in seinem Jetzt sehen. Dieser Kopf hat für mich, wie andere Köpfe auch, einen Widerfahrnis-Charakter. Es scheint, als ob ihm etwas widerfährt oder widerfahren ist. Vielleicht trägt auch der dünne Mund dazu bei. Bei anderen Köpfen sind es die zusammengepressten Augen, wie in einem Krampfzustand. Es ist ein Zustand, in dem die Person nicht entspannt ist, sondern unter Spannung steht. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Messerschmidt selbst ein Getriebener war. Die Assoziation des Widerfahrens bildet das Leitmotiv des inneren Monologs für den Kopf im Bayerischen Nationalmuseum. Wie geht es einem, wenn einem etwas widerfahren ist? Wie kann man sich dann im existentiellen Sinn behaupten? Das ist eine Frage, die sich mir aufdrängt und die, so glaube ich, bei Messerschmidt indirekt eine Grundfrage ist.
JB: Damit spielen Sie jetzt darauf an, dass dieser Widerfahrnis-Charakter nicht bloß etwas mit einer Beziehung zur Außenwelt als Reaktion zu tun hat, sondern dieser Widerfahrnis-Charakter antwortet auf etwas, von dem wir nicht sagen können, ob es von außen oder von innen kommt.
PS: Genau. Man kann es nicht zuordnen. Es wurde öfters bemerkt, dass die Köpfe weltabgewandt seien. Könnte schon stimmen, ja, aber es ist immer etwas Grundlegendes, Existentielles, was sowohl das Innere wie auch das Äußere betrifft, also eine innere wie auch eine äußere Einwirkung.
JB: Und wie sehen Sie das Verhältnis dieser existentiellen Situation, die ja augenscheinlich – sieht man sich die anderen Köpfe an – auch mit Leiden und Schmerzen zu tun haben mag, mit dieser künstlerischen Fähigkeit, der unglaublichen künstlerischen Anstrengung, dieser Ästhetisierung. Schließlich sind die Köpfe ja auch eine großartige Übersetzung in formale, ornamentale Strukturen. Es sind halt keine Selbstbildnisse, sondern das eigene Antlitz ist nur ein Ausgangspunkt. Dass er sich sicher auch teils portraitiert hat, aber andererseits Variationen von Kopfformen darauf hindeuten, dass es nicht immer Selbstbildnisse sein müssen, liegt nahe. Wie schätzen Sie ein, dass dieses Ergebnis diese beeindruckende ästhetische Gestalt angenommen hat, die sich auch in der ornamentalen Qualität dieser Gesichtszüge ausdrückt, in denen Leiden und Schmerz oder Verzerrungen dem Gesicht eine bestimmte Form geben?
PS: Eigentlich bindet die Kopfform das Ornament, und Ornamentalität und Symmetrie spielen sich innerhalb der Gesichtszüge ab. Messerschmidt setzt gewisse Elemente auch wieder bei anderen Köpfen ein. Im schon erwähnten Ausstellungskatalog des Liebieghauses von 2006 heißt es im Beitrag „Die Serie als System“ von Frank Matthias Kammel5, dass auch andere Künstler dieser Epoche Varianten eines Themas zu Gruppen ergänzt haben. Kammel schreibt das Phänomen der Serie auch dem Vormarsch der Wissenschaften zu. Die damals bekannte Physiognomik wurde beispielsweise mit Studienmaterial veranschaulicht, mit grafischen Vorlageblättern oder Lehrbüchern mit Bildfolgen und Motivreihen, und die Künstler nutzten diese. Diese Reihen und Folgen kannte sicher auch Messerschmidt. Der Körper wurde in dieser Zeit auch als funktionale Einheit begriffen, als Ganzes. Das Prinzip der Wiederholung und die gleichwertige Beziehung der Objekte oder Bilder zueinander ermöglichten die Betrachtung des Ganzen als „System“. Was man meiner Meinung nach auch beleuchten sollte, ist die Frage nach dem physikalischen Körper in Zusammenhang mit dem gelebten Körper.
JB: Können Sie das ausführen, was Sie mit physikalischem Körper und gelebtem Körper meinen?
PS: Ich sehe auch hier die Idee vom „Ganzen“, das zusammengehört, indem es aufeinander wirkt. Mit dem physikalischen Körper meine ich, dass Messerschmidt seinen Körper zu Demonstrationszwecken benutzte und daran verschiedenste Mimiken ausprobiert hat. Er zwickte sich an den Rippen und sein Körper antwortete darauf mit einer physischen Reaktion, was er dann für sich als „Entsprechung” interpretierte. Eine Mimik ist ein physischer Vollzug, der eine psychische Übertragung beinhaltet. In gewisser Weise ist es auch eine Verkörperung von etwas eigentlich Flüchtigem. Ich meine damit die Gefühle und das Psychische.
JB: Und wofür steht der gelebte Körper?
PS: Die englische Bezeichnung für den im deutschsprachigen Raum verwendeten Begriff „Leib“ ist „lived body“. Gerade bei Messerschmidt findet die Idee des „gelebten“ Körpers ihren Ausdruck. Der Leib bezeichnet den Körper, der erlebt wird, der mit anderen agiert, der in einem Verhältnis zur Welt steht, im Unterschied zum physikalisch messbaren Körper, der aber auch vorhanden ist. Messerschmidt lässt auch sein eigenes Ich, seine persönlichen Überzeugungen einfließen. Ich glaube, dass diese Idee vom „Ganzen“ bei seiner Arbeit eine Rolle spielt. Für mich ist er ein künstlerisch Forschender, der seine ganz persönliche Theorie durch Selbstbefragung untermauert. Aber auch die Frage nach Selbstbehauptung ist bei ihm von höchster Brisanz.
JB: Ihre Intervention, also dieser Text, könnte man den auch beschreiben nicht in Bezug zu seinem physikalischen Körper, sondern zu seinem gelebten Körper? Wäre das eine Beschreibung für Ihre Intervention?
PS: Messerschmidt erfährt sich selbst mit seinem physikalischen Körper, und er bringt sein gelebtes Ich inhaltlich in die Köpfe ein. Beides verschmilzt zu einem Ganzen. Maraike Bückling hat darauf hingewiesen, dass man Messerschmidts Theorie zum Teil auch als Ausdruck jener Zeit sehen kann. Sie meint, er hat für sich eine Theorie der Gesetzmäßigkeiten entwickelt, indem er bestimmte Elemente aus Freimaurer-Ideen und auch aus Franz Anton Mesmers animalischem Magnetismus aufgreift, nämlich da wo es um Proportionen und Entsprechungen oder generell um Gesetzmäßigkeiten geht. Für die Freimaurer war die Welt ein Abbild der wirkenden Kräfte des Himmels. Mesmer vertrat das Modell eines universellen Fluidums, das Kosmos, Mensch und Natur verband. Ein Prinzip dieser Art übertrug Messerschmidt auf seinen Körper. Er glaubte, dass alles von Proportionen und Verhältnissen bestimmt wäre. Das äußerte sich darin, dass er an einer Stelle an seinem Körper Schmerzen empfand, die seiner Meinung nach genau jener Stelle der Büste entsprach, an der er im Moment arbeitete. Für mich macht das schon Sinn und ist nachvollziehbar. Es hat auch nichts damit zu tun, dass es etwas Verrücktes wäre – für sich hat es eine innere Logik.
JB: Ich finde auch, dass man trotz der kunsthistorischen, psychoanalytischen oder der als weiter differenzierten Krankheitsgeschichte verfassten Interpretation – vor einer Persönlichkeit und einem Werk steht, das eine Stärke und Autonomie besitzt, die als einzigartig in der Zeit dasteht, weil sie gegen jegliche Konvention und gegen jegliche ästhetische Forderungen verstößt und sich radikal einem ganz privaten Projekt verschreibt.
PS: Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Von Hans Rudolph Füeßli, einem Zeitgenossen Messerschmidts, weiß man über den Künstler, dass an der Akademie „häufig Cabalen gegen ihn” entstanden, es heißt „seine Feinde konnten umso sicherer gegen ihn spielen, da ihnen sein offenes Wesen, und sein cholerisches Temperament immer Blößen zu ihrem Vortheile darboth.“ Auch Pötzl-Malikova hat zusammengefasst, was über Messerschmidt als Person bekannt ist. Es heißt da, er wäre freigiebig, gutmütig, zeitweise sonderbar und merkwürdig, aber auch eigensinnig und streitsüchtig, auf Kritik emotional reagierend, und er hätte einen etwas grobschlächtigen Sinn für Humor gehabt. Außerdem wäre er in Pressburg eine lokale Berühmtheit gewesen…
JB: … der sehr viel ausging und gesellig war und sich anscheinend gar nicht so komplett zurückgezogen hat, außer dass es wohl Momente gab, wo er nicht gerne gesehen wurde. Das ist übereinstimmend mit der Dystonie-Interpretation und würde auch die Wiener Zeit erklären können, dass er da natürlich selbst gar nicht in der Lage war sich weiter öffentlich zu zeigen. Und das ist bewundernswert, wo es zu dieser Zeit keine Diagnose geben konnte und Hilfe, sondern er damit ja wirklich alleine gelassen war. Und wie Sie eben sagten, musste er sich das in irgendeiner Weise erklären – und ich glaube, viele dieser späteren Interpretationen gehen von ganz unterschiedlichen in der jeweiligen kulturgeschichtlichen Situation verfügbaren Ansätzen aus, ob das jetzt der Magnetismus ist, oder irgendwelche Geheimlehren oder dieses oder jenes. Sie zitieren das Gespräch mit dem Berliner Verleger Nicolai –, dass er sich tatsächlich einem Projekt verschrieben hat, mit dem er sich selber helfen konnte, indem er das tat, was er getan hat.
PS: Es wurde auch immer wieder erwähnt, dass die Köpfe für Messerschmidt eine apotropäische Funktion haben könnten.
JB: Das Böse, was ihm widerfahren war, oder was er als das Böse verstanden hat, dass er sich dadurch nicht nur schützen konnte, sondern es überwinden konnte, oder sogar bekämpfen und besiegen konnte. Das ist dann auch eine unglaubliche Selbstbehauptung. Er war ein Künstler, der nicht nur in dem Raster von herkömmlichen Aufträgen befangen war. Es ist immer eine Frage, ob Sie eine Neuerung einführen im Rahmen von herkömmlichen Aufträgen, wie von Portraits oder von Grabmälern oder Denkmälern. Da können Sie sich als Genie erweisen, weil Sie was machen, was noch niemand gemacht hat. Aber hier geht es um etwas ganz anderes. Er hat ja diese ganze Gruppe der Köpfe geschaffen als abgetrennten Teil seines Werks. Obwohl er sicher Angebote bekommen hat, hat er abgelehnt zu verkaufen. Deshalb sind sie als Gruppe geschlossen vorhanden bis zum Ende seines Lebens und werden dann erst von den Erben vermarktet.
PS: Da stimme ich Ihnen zu, auch wenn ich den Genie-Begriff für problematisch halte.
JB: Ihre Intervention bezieht sich somit nicht auf die vielen verschiedenen Interpretationen?
PS: Die Interpretationen finde ich schon interessant, aber für meine Arbeit ziehe ich sie nicht heran, und auch nicht, was Messerschmidt gemeint haben könnte. Ich habe meinen eigenen Ansatz. Bezogen auf den Text für den Kopf „Ein mürrischer alter Soldat“ im Bayerischen Nationalmuseum interessiert mich der zeitliche Kontext auch als Phase des Umbruchs und der Unsicherheit. Thomas Knubben beschreibt dies in seiner Biografie über Mesmer6. Man muss sich etwa vorstellen, als die Elektrizität erfunden wurde, wie absurd das heute erscheint: Es gab öffentliche Vorführungen, bei denen man Gruppen von Menschen zur Belustigung der Massen elektrifiziert hat, oder das medizinische Lehrbuch „Die electrische Medizin“ aus dem Jahr 1766, in dem der Regensburger Arzt Johann Gottlieb Schäffer berichtete, wie der gelähmte Fuß einer Patientin mit Funken und einem lauten Knall zur Bewegung gebracht wurde. Mich interessiert auch der Aspekt, wie ist jemand, der seine persönlichen Umstände sehr stark spürt, wie kann er sich mit seinem prekären Ich positionieren? Könnte auch sein, dass er scheitert. Das will er aber nicht. Ich stelle mir Nebenfragen, aus denen ich später meinen Text herauskristallisiere. Es ist für mich wichtig, dass ich mir den Kopf lange anschaue und dann herausfiltere, was für mich das zentrale Merkmal ist, und was das zentrale Thema dann wird.
JB: Vielen Dank für diese abschließende Bemerkung, die nochmal die Werkgenese und den genauen Bezug zum Kopf beschrieben haben.
PS: … denn die Frage nach der Selbstbehauptung ist das, was mich an Messerschmidt fasziniert, und es ist auch eine zentrale Frage in der zeitgenössischen Kunst.
1 Petra Sterry, „Die sich fügende Ordnung“, Bayerisches Nationalmuseum, München, 3.4.-30.9.2019; Sprecher: Nikolaus Kinsky (deutsch), Howard Nightingall (Engl.), Aufnahme: ZONE Media
2 Maria Pötzl-Malikova. Agnes Husslein-Arco (Hg.): Franz Xaver Messerschmidt 1736-1783; Monografie und Werkverzeichnis | Monograph and catalogue raisonné, Bibliothek der Provinz, Weitra 2015
3 Heike Höcherl, Wahngebilde und Kunstwerke zugleich, S. 90, in: Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt / Fantastic Heads of Franz Xaver Messerschmidt; Maraike Bückling (Hg.), Hirmer Verlag, München 2006
4 Maraike Bückling, Franz Xaver Messerschmidt – Verrücktheit, Intrige und Genie, S. 35-35, in: Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt / Fantastic Heads of Franz Xaver Messerschmidt; Maraike Bückling (Hg.), Hirmer Verlag, München 2006
5 Frank Matthias Kammel, Die Serie als System, S. 242-265, in: Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt / Fantastic Heads of Franz Xaver Messerschmidt; Maraike Bückling (Hg.), Hirmer Verlag, München 2006
6 Thomas Knubben: Mesmer oder Die Erkundung der dunklen Seite des Mondes, S. 64-69, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2015